„Zum Silicon Valley Europas weiterentwickeln“ - Digitalministerin Sinemus im Interview

Die hessische Ministerin für digitale Strategie und Entwicklung, Prof. Dr. Kristina Sinemus, spricht im Interview mit dem Hessischen Industrie- und Handelskammertag darüber, wie sie Hessen zu einem Musterland der Digitalisierung machen möchte.
Frau Ministerin, Sie sind nun seit gut einem Jahr im Amt und als Seiteneinsteigerin in die Politik gegangen. Wie oft haben Sie den Wechsel aus der Wirtschaft in die Politik bereut?
Bereuen ist der falsche Begriff, es ist eine völlig neue Herausforderung. Es war eine bewusste Entscheidung, aber auch ein mutiger Schritt aus der eigenen Komfortzone heraus. Die Wege zwischen Politik und Wirtschaft müssen durchlässiger werden. Beide Seiten können viel voneinander lernen und sollten sich gegenseitig besser verstehen. Unser verbindendes Ziel lautet: Fit für die Digitalisierung und die Zukunft zu sein.    
Zur Person
Prof. Dr. Kristina Sinemus ist seit Januar 2019 Hessische Ministerin für Digitale Strategie und Entwicklung. Die gebürtige Darmstädterin gründete 1998 die Genius GmbH als geschäftsführende Gesellschafterin. Seit 2011 ist sie Professorin für den Fachbereich Public Affairs an der Quadriga Hochschule Berlin. Sinemus ist ausgebildete Mediatorin, Großgruppenmoderatorin und zertifizierter Coach. Von 2014 bis 2019 war sie Präsidentin der Industrie- und Handelskammer Darmstadt Rhein Main Neckar, von 2017 bis 2019 Vizepräsidentin des HIHK. Seit 2018 ist Sinemus Landesvorsitzende des Wirtschaftsrates Hessen.
Was hatte für Sie als Unternehmerin im Bereich Digitalisierung Priorität? Hat sich das mit Ihrem Rollenwechsel geändert?
Als Unternehmerin hatte ich eine gewisse Ungeduld bei der Umsetzung von Projekten. Spätestens seit ich Ministerin bin, weiß ich: Die Gründlichkeit der Verwaltung und das Spezialwissen, das hier existiert, sind wichtig und positiv. Das sehe ich auch beim Aufbau meines Ministeriums: Wir planen Haushaltsgelder, bauen ganz neue Bereiche auf, benötigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir sind auf einem sehr guten Weg und haben schon viel erreicht.
Vermissen Sie etwas an Ihrer Rolle als IHK-Präsidentin?
Als IHK-Präsidentin hat es mir unheimlich viel Spaß bereitet, die Wirtschaftsregion im Blick zu haben und für sie Repräsentantin in unterschiedlichen Gremien zu sein. Unter meiner Präsidentschaft haben wir in Darmstadt eine eigene Säulenstrategie entwickelt. Diese klare Strategie übergeben zu müssen, hat mir ein Stück weit leidgetan, aber ich bin auch sehr stolz auf das Erreichte, denn es geht vor allem darum, die regionale Wirtschaft voranzubringen.

Mobilfunk- und Breitbandausbau

In den letzten Monaten haben Sie pressewirksam einige Förderbescheide übergeben. Sie signalisieren: Beim Breitbandausbau, bei 4G, bei 5G geht es voran. Gleichzeitig gibt es auch noch Lücken und Ausbaubedarf. Wie bringen Sie den Ausbau der digitalen Infrastruktur in Hessen konkret voran?
Wir investieren so viel Geld in den Gigabit- und Mobilfunkausbau in Hessen wie nie zuvor. Im Rahmen unserer Gigabitstrategie investieren wir insgesamt 270 Mio. Euro in den Gigabitausbau, plus 50 Mio. zum Schließen weißer Flecken im Mobilfunk. 2019 haben wir Fördervolumina von rund 75 Mio. Euro bereitgestellt. Beim Glasfaserausbau werden Gewerbegebiete, Schulen, Krankenhäuser und öffentliche Einrichtungen priorisiert. Die Erschließung von Gewerbegebieten wird dabei mit weiteren 100 Mio. Euro bezuschusst. Schon heute verfügen 91% aller Haushalte in Hessen über einen Breitbandanschluss von mindestens 50 MBits, drei von vier sogar über einen von mindestens 200 MBits. Bis spätestens 2025 wollen wir flächendeckend Gigabit- und bis 2030 Glasfaseranschlüsse bereitstellen. Da sind wir schon auf einem guten Weg. Der Vorteil der Digitalisierung für die Menschen in Hessen zeigt sich auch durch den Ausbau des Mobilfunknetzes. Durch die Modernisierung von 1.828 und den Neubau von 139 Mobilfunkmasten bis zum Jahreswechsel wurde bereits jetzt ein spürbarer Mehrwert für die hessischen Bürgerinnen und Bürger bei der Mobilfunkabdeckung erreicht. Die Überarbeitung der Hessischen Bauordnung wird zusätzlich unterstützend wirken. Davon erhoffen wir uns eine deutliche Vereinfachung der Genehmigungsverfahren.
Wie sieht es mit den ländlichen Regionen Hessens aus? Auf dem Weg von Kassel nach Frankfurt ist mobiles Arbeiten nur schwer möglich. Wann wird sich das ändern?
Der ländliche Raum ist und bleibt ein besonders wichtiger Förderschwerpunkt für uns. Noch verbliebene Mobilfunklöcher schließen wir schnellstmöglich. Hier sind wir allerdings auch auf die Netzbetreiber angewiesen. Das Land Hessen investiert dort, wo die Privatwirtschaft nicht investiert. Mit 50 Mio. Euro schafft das Land Hessen 300 neue Mobilfunkstandorte, die hauptsächlich im ländlichen Raum liegen. Zudem haben wir eine Mobilfunkförderrichtlinie auf den Weg gebracht, die sich gegenwärtig im Rahmen des Notifizierungsverfahrens zur Abstimmung bei der Europäischen Kommission befindet.

Kompetenzzentren Mittelstand 4.0 und Förderlandschaft

Die Kompetenzzentren Mittelstand 4.0 unterstützen kleine und mittlere Unternehmen bei der Digitalisierung, auch in Hessen mit dem Zentrum in Darmstadt. Welche Perspektive haben die Kompetenzzentren nach Auslaufen der Bundesförderung?
Zunächst einmal haben die Kompetenzzentren kürzlich eine zweite Bundesförderung erhalten. Diese läuft bis Ende Februar 2021. Das Zentrum in Darmstadt ist in meinem Ministerium ressortiert. Neben den Bundesmitteln werden wir auch Landesmittel investieren, um die Beratungsleistung in ganz Hessen zur Verfügung zu stellen. Denn der hessische Mittelstand hat weiterhin Bedarf für Integrationsberatung rund um die Digitalisierung.
Es existiert eine breite Förderlandschaft in Hessen: Digi-Berater, Digi-Check, Digi-Zuschuss, Digiscouts. Was fehlte oder fehlt aus Ihrer Sicht?
Förderinstrumente sind kein Selbstzweck. Wir haben daher genau analysiert, ob und wo es weiteren Förderbedarf gibt. Aus dieser Analyse heraus haben wir unser neues Förderprogramm „Distr@l“ entwickelt. Sowohl in seiner Höhe, Breite als auch Tiefe ist unser Programm Distr@l einzigartig. Mit einem Volumen von rund 40 Millionen Euro handelt es sich in der hessischen Historie um das größte im Bereich der Digitalisierung. Wir haben es bewusst breit aufgestellt, um sowohl kleine und mittlere Unternehmen in deren digitaler Transformation als auch junge Unternehmen beim Aufbau neuer digitaler Innovationen zu unterstützen.
Mit dem kostenlosen Online-Kurs „Elements of AI“ der Industrie- und Handelskammern kann sich ab sofort jeder im Internet Wissen über künstliche Intelligenz aneignen. Er zeigt, wie Maschinen lernen, Bilder und Texte erkennen und mit Menschen interagieren. Was halten Sie von dieser Initiative?

Ich finde sie sehr gut. Die Initiative hilft dabei, den theoretischen Begriff künstliche Intelligenz mit Leben zu füllen. Darum geht es auch bei der Digitalisierung: Greifbar machen, worüber wir sprechen. Digitalisierung ist nichts anderes als technischer Fortschritt durch die Anwendung mathematischer Algorithmen. Und das in den unterschiedlichsten Bereichen – von der privaten Nutzung des Smartphones über die wirtschaftliche Produktion bis hin zur Forschung. Es ist entscheidend, dass wir Fortschritt mitgestalten und mitentwickeln. 

Stand der Digitalisierung in Hessen im Vergleich

Wo steht Hessen bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich mit Hotspots wie dem Silicon Valley oder Tel Aviv?
In der Metropolregion Rhein-Main haben wir rund 14.000 Unternehmen im Bereich Informations- und Kommunikationstechnik mit etwa 140.000 Arbeitsplätzen. Das ist ein Nukleus, den wir zum Silicon Valley Europas weiterentwickeln können. Ich sehe Hessen mit der Dichte an Forschungszentren, mit dem größten Datenknotenpunkt Europas und mit dem Flughafen als Mobilitätsdrehkreuz als hervorragenden Standort. Wir brauchen uns, auch im internationalen Vergleich, nicht zu verstecken.
Wie passt das mit dem bestehenden Beratungsbedarf bei der Umsetzung der Digitalisierung zusammen?
Die Herausforderungen sehe ich vor allem bei kleineren und mittleren Betrieben. Für sie ist es nicht einfach, sich an wandelnde Kundenansprüche anzupassen und Wertschöpfungsketten umzustellen. Hier wollen wir beratende Unterstützung ermöglichen, um die regionale Wirtschaft und den Standort Hessen zu stärken.  
In Hessen sind 20 Professuren für Künstliche Intelligenz geplant. In Bayern aber sogar 100. Gibt es in Hessen ressortübergreifend zu wenig Schwung bei dem Thema?
Das sehe ich nicht so. Gemeinsam mit dem Hessischen Wissenschafts- und dem Hessischen Wirtschaftsministerium haben wir aktuell die Ausschreibung für ein Kompetenzzentrum für Künstliche Intelligenz initiiert, von dem wir uns große Impulse erwarten.

Erfolge und Wünsche an die Wirtschaft

Worauf sind Sie als Ministerin stolz?
Wir haben in Hessen etwas aufgebaut, das kein anderes Bundesland hat: Ein neues Digitalministerium mit moderner Organisationsstruktur, das 1,2 Milliarden Euro Landesmittel verwaltet und eine Strategie auf den Weg gebracht hat. Das eine Bündelungs- und Querschnittsfunktion hat und alle Aktivitäten zum Ausbau, zur Finanzierung und zur Regulierung der digitalen Infrastruktur zusammenfasst. Gleichzeitig haben wir bereits große Erfolge beim Ausbau von Breitband und Mobilfunk vorzuweisen und mit Distr@l ein neues Förderinstrument etabliert. Für uns spielt wertebasierte Digitalisierung eine wichtige Rolle. Daher haben wir ein Hessisches Kompetenzzentrum für verantwortungsbewusste Digitalisierung gegründet. Denn nach meiner Überzeugung muss Digitalisierung dem Menschen dienen, nicht umgekehrt.
Was wünschen Sie sich von der hessischen Wirtschaft?
Ich wünsche mir eine noch engere Zusammenarbeit und Verzahnung bei den Themen Fachkräftesicherung und Digitalisierung. Hier erhoffe ich mir Impulse von der Wirtschaft, eventuell auch bei gemeinsamen Runden Tischen. Vorstellen kann ich mir auch konkrete, wertschöpfungsintegrierte Projekte bei der Umsetzung von Digitalisierung in Unternehmen. Dieses Land braucht mutige Unternehmerinnen und Unternehmer. Deshalb wünsche ich mir auch mehr Mut: Mut, etwas auszuprobieren, Dinge unkonventionell zu machen, den eigenen Standort zu loben und nicht nur Probleme zu sehen. Wenn wir das beherzigen, werden wir mit der Digitalisierung noch schneller vorankommen.
Das Interview führten Melanie Dietz, Leiterin Kommunikation IHK Wiesbaden, und Alexander Rackwitz, Leiter Kommunikation Hessischer Industrie- und Handelskammertag.