Hessische Wirtschaft warnt erneut nachdrücklich vor Embargo auf russisches Gas

5. Mai 2022 - Die hessische Wirtschaft warnt erneut nachdrücklich vor einem Embargo auf russisches Gas. „Es geht nicht um 2 Grad Raumtemperatur mehr oder weniger. Es geht zum Beispiel um die Verfügbarkeit von Medikamenten und Medizinprodukten. Es geht um das Funktionieren weiter Teile der Industrie. Wir wünschen es uns alle anders. Aber noch sind wir auf russisches Gas angewiesen“, so Kirsten Schoder-Steinmüller, Präsidentin des Hessischen Industrie- und Handelskammertages (HIHK). Bevor alternative Bezugsmöglichkeiten umgesetzt seien, drohten bei einem Lieferstopp enorme Preissprünge und Versorgungsengpässe. „Spätestens im Herbst wären Rationierungen und die Abschaltung ganzer Betriebe notwendig. Mit entsprechenden Folgen für die Wirtschaft, Arbeitsplätze und Verbraucher“, warnt Schoder-Steinmüller.
Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) rechnet bei einem Stopp für Lieferungen russischen Gases für 2022 und 2023 mit einem Verlust an Bruttowertschöpfung in Höhe von 16,1 Mrd. Euro – allein in Hessen. Rund 212.000 Arbeitsplätze könnten in Hessen durch den Wertschöpfungsverlust betroffen sein.
Zu den energieintensiven Branchen, die aktuell auf eine zuverlässige Gasversorgung angewiesen sind, gehört die Chemieindustrie. An Standorten wie dem Industriepark Höchst in Frankfurt am Main, einem der größten Forschungs- und Produktionsstandorte der Chemie- und Pharmaindustrie in Europa mit 90 Unternehmen und 22.000 Beschäftigten, werden Medikamente, Pflanzenschutzmittel, Lebensmittelzusatzstoffe, technische Kunststoffe, Wachse und eine Vielzahl weiterer wichtiger chemischer Zwischen- und Endprodukte hergestellt, die auch für andere Industrien und deren Lieferketten unverzichtbar sind. Als Standortbetreibergesellschaft versorgt Infraserv Höchst die Unternehmen und deren rund 120 Produktionsanlagen in dem 4,6 Quadratkilometer großen Industriepark mit Energie, vor allem mit Prozessdampf.
„Die Versorgung des Standorts mit Nutzenergie basiert größtenteils auf Erdgas, da wir Ende 2020 den Kohleausstieg vollzogen haben, um auf diese Weise rund eine Million Tonnen CO2-Emissionen zu vermeiden“, erklärt Jürgen Vormann, Vorsitzender der Geschäftsführung von Infraserv Höchst. „Wir nutzen zwar auch heizwertreiche Ersatzbrennstoffe und Biogas für die Versorgung unserer Kunden, aber ohne Erdgas kommen wir nicht aus.“ Vormann warnt davor, die Folgen eines Import-Boykotts oder eines Embargos russischen Erdgases zu unterschätzen: „Ein kurzfristiger Wegfall russischer Gaslieferungen – so wünschenswert dies auch aus politischen Gründen wäre – wäre kurzfristig nicht zu kompensieren, und die Neben-, Folge- und Fernwirkungen würden aufgrund der hoch arbeitsteilig und interdependent organisierten Wertschöpfungsketten weit über die chemische Industrie hinausgehen.“
Wenn der Industriepark Höchst in nennenswertem Umfang den Zugriff auf Erdgas verlöre, könnten ganze Wertschöpfungsketten davon bedroht sein. Vor diesem Hintergrund hat Infraserv Höchst schon vor Wochen damit begonnen, schnell umsetzbare Szenarien zur Sicherung der Versorgung des Industrieparks Höchst und der dort tätigen Standortkunden mit Nutzenergien im Falle einer kriegsbedingten Erdgasmangelsituation zu entwickeln. So prüft Infraserv Höchst derzeit z.B. die Wiederinbetriebnahme des Kohlekraftwerks, auch mit der Option, alternativ leichtes Heizöl als Brennstoff zu verwenden. “Natürlich kann man so ein Kraftwerk nicht einfach wieder einschalten. Es wird einige Monate dauern, um die technischen Voraussetzungen für das Wiederanfahren der Anlage zu schaffen. “, erläutert Vormann. „Ich bin aber zuversichtlich, dass wir das bis zum nächsten Winter schaffen. Allerdings müssen wir auch einen Millionenbetrag investieren, um das Kohlekraftwerk zu reaktivieren. Dazu sind wir auch bereit – allerdings müssen dann auch jetzt sehr schnell die entsprechenden Genehmigungsvoraussetzungen von behördlicher Seite geschaffen werden.“ Insgesamt sind die aktuell deutlich gestiegenen Energiekosten nach Meinung von Vormann mittel- bis langfristig ein großes Problem für die in Deutschland produzierenden Unternehmen, die sich in einem internationalen Wettbewerb behaupten müssen.
HIHK-Präsidentin Schoder-Steinmüller weist abschließend mit Blick auf die Gasversorgunglage in Deutschland darauf hin, dass es richtig sei, die Gasspeicher zu füllen, neue Bezugsquellen zu suchen und schnellstmöglich LNG-Terminals zu bauen. Dass noch in diesem Jahr – auch durch die Verkürzung der Genehmigungszeiten – zwei von insgesamt vier schwimmenden LNG-Terminals in Betrieb gehen sollen, wertet sie als wichtigen Schritt. Vor einem Embargo müssten sich Hessen und Deutschland unabhängiger von russischen Importen machen. Wirkungsvolle Sanktionen müssten das kriegsführende Russland treffen, nicht unsere heimische Wirtschaft gefährden.