Hessens Wirtschaft fordert neue Ansätze in der Berufsorientierung
12. Dezember 2022 – Hessens Wirtschaft fordert neue Ansätze, um Jugendliche besser auf das Berufsleben vorzubereiten. Das Land solle Fachoberschulen als Vollzeitangebote abschaffen und die beruflichen Schulen wieder auf die Kernaufgabe Teilzeitunterricht konzentrieren. Zwei Praktika in der allgemeinbildenden Mittelstufe und eines in der gymnasialen Oberstufe sollten Pflicht werden. Eignungs- und Talenttests müssten allen Schülerinnen und Schülern angeboten werden. Zudem sollten Jugendliche und Studienabbrecher intensiver beraten werden. Das geht aus einem gemeinsamen Forderungspapier des Hessischen Industrie- und Handelskammertages (HIHK), der Arbeitsgemeinschaft der Hessischen Handwerkskammern, der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) und des Verbands Freier Berufe in Hessen hervor.
Handlungsbedarf sieht die Wirtschaft wegen des Fachkräftemangels, der in vielen Berufen schon Realität ist. Bereits heute bestehe eine große Lücke zwischen Angebot und Nachfrage. Es fehlten vor allem beruflich Qualifizierte: Von den derzeit 135.000 fehlenden Fachkräften seien 86 Prozent beruflich Qualifizierte. Dabei nähme die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber um die Duale Ausbildung seit Jahren ab. Von einer besseren Berufsorientierung und Reduzierung des schulischen Übergangssystems verspricht sich die Wirtschaft Linderung.
„Bei den Novellen des Hessischen Schulgesetzes und des Lehrkräftebildungsgesetzes hat die Landesregierung leider Chancen verpasst. Der Fachkräftemangel geht auch auf einen Mangel an passgenauer Orientierung zurück. Wir wünschen uns, dass die Jugendlichen bei der Wahl ihres Berufes besser unterstützt werden. Ausbildung und Studium sollten an allen Schulen gleichberechtigt vorgestellt werden. Es braucht außerdem mehr ausgebildete Lehrkräfte und Weiterbildungen für sie. Einige Schulen in Hessen sind bei der Berufsorientierung schon vorbildlich. Vielen anderen fehlen aber die Lehrkräfte, Vorgaben im Curriculum und praxisnahe Unterrichtshilfen“, sagte Kirsten Schoder-Steinmüller, Präsidentin des Hessischen Industrie- und Handelskammertages (HIHK).
„Für das hessische Handwerk“, so Susanne Haus, Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft der Hessischen Handwerkskammern, „ist es sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler in den Gymnasien in gleicher Weise eine Berufsorientierung auch im Stundenumfang erhalten, wie sie in den anderen Schulformen stattfindet. Dazu zählen dann nicht nur eine Studienorientierung in der Oberstufe, sondern auch frühzeitige Informationen zur Dualen Ausbildung, ein Ausbau der verpflichtenden Praktika in unterschiedlichen Bereichen, Betriebsbesichtigungen und Ähnliches.“
Wolf Matthias Mang, Präsident der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU), sagte: „Wir haben in Hessen ein erhebliches Nachwuchsproblem. Immer weniger Jugendliche interessieren sich immer seltener für die duale Ausbildung. Deshalb müssen wir alle Potenziale heben, die wir haben, und da ist der Übergang von der Schule in den Beruf ein zentraler Bereich. Das schulische Übergangssystem mag für viele Jugendliche vermeintlich attraktiv sein, dadurch erwächst jedoch politisch hausgemachte Konkurrenz für die duale Ausbildung. Die Politik ist hier handelnder Akteur und muss Berufsorientierung an den Schulen breiter und verbindlicher aufstellen. Nicht als Option, sondern als Muss. Nicht als notwendiges Übel, sondern mit Elan für die Zukunft unserer Kinder und unserer Gesellschaft insgesamt.“
Dr. Karin Hahne, Präsidentin des Verbandes Freier Berufe in Hessen, hält fest: „Die duale Ausbildung im Bereich der Freien Berufe führt nicht zur Berufsträgerschaft. Es handelt sich hier um Assistenzberufe, auf die Ärzte, Anwälte oder Steuerberater bei der Ausübung ihres Berufes dringendst angewiesen sind. Die Freien Berufe üben Dienstleistungen direkt am Menschen aus. Dies fordert ein hohes Maß an Verantwortlichkeit auch und gerade bei den Assistenzberufen. Umso wichtiger ist es, dass bereits in den allgemeinbildenden Schulen frühzeitig gezielt und kompetent über die duale Ausbildung in diesem Bereich informiert wird. Flankiert von Kompetenzfeststellungsverfahren, um den richtigen Berufsweg für die eigenen Fähigkeiten finden zu können. Die Möglichkeiten dazu wünschen wir uns von der Politik.“
Kernforderungen im Überblick
- Schulisches Übergangssystem reduzieren: Fachoberschulen als Vollzeitangebot abschaffen, berufliche Schulen auf Kernaufgabe Teilzeitunterricht konzentrieren
- Mehr Praktika: Zwei mindestens dreiwöchige Pflichtpraktika für die Mittelstufe, ein weiteres in der gymnasialen Oberstufe; freiwillige Praktika erleichtern; 12 Wochen Praktika statt Verlängerung des Schulbesuchs für Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben
- Fachkräftemangel durch bessere Berufsorientierung und -beratung lindern
- Kompetenz-, Eignungs- und Talente-Feststellungen in allen Schulen und für alle Schülerinnen und Schüler, mehr Berufsberaterinnen und -berater bei den Arbeitsagenturen
- Bessere Beratung für (potenzielle) Studienabbrecher
- Verpflichtende Studienorientierungstests vor Studienbeginn, die zur Selbstreflexion anregen, aber nicht als Zulassungsvoraussetzungen gelten
- Stärkung der Berufsorientierung in allgemeinbildenden Schulen
- Behandlung der Berufsorientierung auch in Kernfächern
- Mehr Lehrkräfte und verpflichtende Weiterbildungen zur Berufsorientierung
- Bessere Datenweitergabe zu anschlussgefährdeten Jugendlichen: Schulen aller Schulformen sollen Daten zur Berufsberatung an die Arbeitsagentur übergeben können, auch Gymnasien
Hintergrund
Das Nebeneinander von beruflicher und akademischer Bildung ist in Deutschland historisch gewachsen und hat sich über Jahrzehnte bewährt. Für die Duale Ausbildung wird Deutschland international bewundert. Das Verhältnis der Bildungsbereiche zueinander hat sich mittlerweile jedoch stark verschoben. Es besteht ein deutlicher Trend zur Akademisierung. Diese Entwicklung verstärkt den Mangel an beruflich Qualifizierten. In der beruflichen Bildung leisten die Unternehmen finanziell und inhaltlich einen wesentlichen Beitrag. Dadurch sind die staatlichen Ausgaben für Bildungskarrieren beruflich Qualifizierter niedriger als für Akademiker.